Beziehungs:szenen


Essayfilm, AT 2024, 80 min, DCP, OmeU

"Often, family members don’t talk about their own problems, but live side by side in superficial harmony. Annja Krautgasser ventures an exciting cinematic experiment and deliberately stages her own family constellation in front of the camera. Beziehungs:szenen grapples with different role assignments, mutual expectations, and dependencies within the family system—and poses questions that are usually not addressed in families.“ (Diagonale '24)


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Auf der Suche nach dem Miteinander 
von Barbara Kaufmann

Was weiß man vom anderen? Was kann man wissen? Was will man voneinander überhaupt wissen? 
Beziehungen als Nährboden für Fremdbestimmung, Schuldzuweisungen, Verlustangst. Vater, Mutter, Kind. 
Es geht um enge Bande, um Pflicht, um Abhängigkeiten und darum, wie sich Menschen aneinander binden. Ohne, dass es ihnen bewusst zu sein scheint. Und auch ohne, dass sie daraus flüchten könnten. Annja Krautgassers Beziehungs:szenen stellen Fragen, die sich die meisten in Beziehungen nicht zu stellen wagen. Weil sie die Wunden fürchten, die sich dadurch offenbaren könnten. Im anderen und im Selbst. 

Die Filmemacherin hat dafür ein Setting gewählt, das scheinbar statisch und streng strukturiert ist. Ein Raum im Souterrain mit nur wenig Tageslicht, das durch eine kleine Luke am oberen Rand der Wand ins Zimmer strahlt. Auf dem Boden eine quadratische Markierung, in deren Mitte die Protagonist:innen auf- und abgehen, auf Kommando – freeze! – einfrieren, gegenseitig mit den Körpern anderer Personen Skulpturen bilden. Es sind Elemente aus der Familienaufstellung nach Hellinger und des Forumtheaters nach Augusto Boal, derer sich Krautgasser künstlerisch bedient. 
Schließlich steht da ein Sesselkreis in schlichtem Schwarz, auf dem mehr oder weniger alle freiwillig Platz nehmen. 


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Bald schon offenbart sich, was die dramaturgische Besonderheit des Films ausmacht: die Vielschichtigkeit. Die verschiedenen Ebenen, auf denen das Erzählte verhandelt wird. Da sind einmal sechs Personen, drei Frauen, drei Männer. Jede:r Teil eines Familiengefüges. So werden sie auch vorgestellt. Mit Namen, aber auch gleichzeitig in ihrer Funktion. Als Bruder, Halbschwester, Ehemann, Vater, Mutter. Nur Alva, die Erste, die zu Wort kommt, ist ein Individuum. Steht sie stellvertretend für die Filmemacherin? Ist es ihre Geschichte, die hier erzählt wird? 
Die Runde wird geleitet von einer Therapeutin, die bis auf die Begrüßung angenehm im Hintergrund bleibt und nur selten einschreitet. Jede Person hat ihre eigene Geschichte, ihre Konflikte innerhalb eines festen Familienverbandes, und die Bereitschaft, sich zu öffnen, einander zu begegnen, ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Schnell stellt sich die Frage, ob Begegnungen noch möglich sind, wenn jede:r im eigenen Trauma, in der eigenen Geschichte verhaftet zu sein scheint. 

Die Spannung des Films entsteht jedoch genau durch diese Einblicke in das Innenleben der Figuren. Es braucht keine Schauplatzwechsel, keine schnelle Montage, gerade die Ruhe, die Krautgasser ihren Darsteller:innen beim Entwickeln ihrer Figuren lässt, der lange Blick, mit dem sie auf ihnen bleibt, selbst wenn sie schweigen, wenn sie den Monolog abbrechen, wenn sie sich unsicher abwenden, erzeugt eine atmosphärische Dichte, der man sich nicht entziehen kann. Nach ihren Monologen treten die Schauspieler:innen aus ihren Rollen heraus und debattieren in der Runde die jeweilige Figur, und es ist dieser dramaturgische Kniff, der das Gesehene um eine zusätzliche Ebene erweitert, die den Beziehungs:szenen etwas Universelles gibt, in dem man sich selbst wiederfindet, ja wiederfinden muss. Dieses antiillusionistische Stilmittel ist es auch, das eine klare Absage an den alles und jeden psychologisierenden Zeitgeist erteilt, indem es ihn reflektiert und zeigt, wie man Räume schafft, in denen eine authentische Auseinandersetzung mit psychischen Verletzungen möglich zu werden scheint. 
Im Laufe des Geschehens werden bei dem einen oder der anderen Abgründe sichtbar, schlummernde Konflikte verdichten sich, die Stimmung zwischen Einzelnen kippt spürbar.


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Krautgasser lässt ihre Figuren schonungslos offenbaren, was Beziehungen formt, jenseits von Kitsch und Romantik. Äußere Umstände, ökonomische Zwänge, finanzielle und emotionale Abhängigkeiten, familiäre Verpflichtungen, emotionale Erpressung, Vorwürfe. Wem kann geholfen werden, wer will im Stillstand verharren, wer will weitergehen, wenn nötig auch allein? Gibt es so etwas wie Gleichberechtigung? Sobald ein Kind da ist, sagt die Figur der Alva zu Beginn, scheinen sich sämtliche Gleichstellungsambitionen eines Paares aufzulösen. Aber auch die Beziehung zwischen Eltern und Kindern wird gnadenlos seziert. Meine Tochter ist mir entglitten, klagt die Figur der Elfriede. Und man kommt nicht umhin, an dieser Stelle zu vermuten, dass nur entgleiten kann, was zuvor als absoluter Besitz wahrgenommen worden ist. Kindheitsverletzungen spiegeln sich im Verhältnis mit den eigenen Kindern wider. 
Hurt people hurt people. 

Als schließlich einer die Runde verlässt und einfach geht, scheint endgültig alles zu eskalieren. 
Im Laufe des Films wird der Raum sukzessive aufgemacht, die Aufnahmesituation wird transparent, die Inszenierung wendet sich. Man sieht nicht nur Kameras, das Team hinter den Kulissen, auch die Regisseurin tritt selbst öfter in Erscheinung und schreibt sich in die Handlung ein. 
Sie kommentiert, sie kritisiert, sie reflektiert ihre eigenen Emotionen. Und es ist wie ein Echo auf die Figur der Alva. Jene Frau, die klagt: Es ist kein Platz für mich. Ihr gebt ihn mir nicht. 

Annja Krautgasser nimmt ihn sich einfach. Mit einem feministischen Selbstverständnis, das keine Rechtfertigung braucht. Und das ist gut so. 


Credits:
Regie, Buch: Annja Krautgasser
Darsteller:innen: Matthias Böhm, Joachim Brandl, Nina Fog, Alexander Linhardt, Christina Reichsthaler, Sophie Resch, Juliane Zöllner,
Voice-over: Lilith Friedmann
Kamera: Martin Putz, Katharina Simunic
Schnitt: Julia Sternthal
Originalton: Sebastian Meyer, Ursula Winterauer
Regieassistenz: Gerald Straub
Dramturgische Beratung: Chris Michalski
Familienaufstellung: Stella Hiesmayr
Casting: Julia Reiter
Catering: Emilia Lopez
Maske: Nora Eglesz, Katja Hofer
Aufbauteam: Gerald Straub, Wolfgang Oblasser
Lokation: Akademie der bildenden Künste Wien.

Gefördert von:
BMKÖS – innovative film | Stadt Wien MA 7 | Land Tirol – Kultur