Vegas


Edition Medienturm 14
2006, PAL 4:3, 11 min, (interaktive) Animation: 800x600 px, Sounddesign: Martin Siewert

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© Installationsansicht: Vegas, Electric Avenue, Ovalhalle, Museumsquartier Wien, 2006

„Schönheit ist eine Frage der Geschwindigkeit des Blicks“

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Geschwindigkeit ist auch der Parameter, von dem Venturi/Scott-Brown/Izenour in ihrer bahnbrechenden Analyse der architektonischen Symbole einer Geschäftsstadt Learning from Las Vegas (1978) ausgehen. Eine Beschleunigung des wahrnehmenden Körpers bzw. des Auges im Durchfahren dieser Stadt „bedingt eine zunehmend abstrakte Orientierung“ im Raum, „Einzelheiten werden immer weniger wahrgenommen, die Aufmerksamkeit konzentriert sich auf entscheidungsrelevante Wahrnehmungen“2, verkürzt gesagt auf konsumrelevante Entscheidungen, die die Besucher von Las Vegas treffen müssen: Casino, Hotel, Einkaufszentrum oder Restaurant oder doch alle zusammen?

Venturi/Scott-Brown/Izenour konstatieren in Las Vegas das „Primat des Symbolischen vor der reinen Form“ und die „Präponderanz der Zeichen über den Raum“: Lichterketten, Schilder, Leuchtreklamen, die der Orientierung dienen, sind den Gebäuden vorgelagert bzw. vorgehängt, verwandeln sie einerseits in Lichtquellen und simulie-ren andererseits architektonische, gebaute Formen, wo keine sind.

Diese Zeichen nimmt Annja Krautgasser in VEGAS als Ausgangspunkt: Lichterketten reduziert sie in ihrer Formensprache vorerst auf einfache Rechtecke, Kreise, Linien. In weiterer Folge der zehnteiligen Serie, die Vegas bildet, verwendet sie narrative Elemente wie Pfeile oder kleine Landschaften in unspektakulärer Form, um auf die verschiedenen Ausprägungen der Konstruktion der „Entscheidungsrelevanz“ dieser Ketten hinzuweisen: kennzeichnend oder anspielend, emblematisch und physiognomisch, sinnhaft oder expressiv (analog zu Venturi/Scott-Brown/Izenour3).

Die Unterhaltung, das Spektakel, beginnt in Las Vegas nicht erst in der noch zu wählenden Lokalität, sondern bereits davor; die Stadt verspricht Zerstreuung nicht hinter den Fassaden, sie löst sie schon durch diese ein. „Schönheit“ ist dabei tatsächlich zur Frage der Geschwindigkeit des Blicks geworden: Wie schnell oder langsam muss „der Blick“ allerdings sein, um sie zu erkennen?

In Vegas wird er jedenfalls für einen kurzen Moment stillgestellt, eine Struktur nach der anderen wird freigelegt und analysiert. Die Dreidimensionalität der Architektur simulierenden Zeichen wird in die Zweidimensionalität zurückgeführt: Bildhaft, flächig sind die weißen Punkte, aus denen die Formen zusammengesetzt sind, wie die Leuchtkörper, aus denen die Leuchtzeichen produziert wurden. Die Analogie lässt sich fortsetzen: So ist gerade diese Eigenschaft des Videobildes im Gegensatz zum Filmbild als signifikant bezeichnet worden: dass es von innen heraus, quasi „von selbst“ leuchtet, dass Licht nicht mehr projiziert wird. Die Mikrostrukturen in Vegas wiederum lassen sich als Verweis auf Pixel, Bildpunkte, lesen, die den leuchtenden Punkten der Glühbirnen ähneln. Auf diese „Stillstellung“ und Hervorhebung der eigentlichen „Produktionsbedingungen“ der Zeichen folgt jedoch die abermalige Beschleunigung, die diesmal im Bild selbst entsteht: Zum repetitiven Ton von Martin Siewert pulsieren die Formen, expandieren einer bestimmten Ordnung folgend, um dann Richtung und Rhythmus zu ändern und scheinbar in Einzelteile zu zerfallen. Die Orientierungslosigkeit oder der Rausch, der die Betrachter angesichts einer Überfülle an Zeichen erfassen kann, wird auf diese selbst übertragen: Ihrer eigentlichen Funktion enthoben, taumeln sie in der räumlichen Ordnung umher und zerfallen in ihre Einzelelemente. Die konsumrelevante Entscheidung kann nicht getroffen werden, das Begehren nach dem Spektakel wird in Vegas nicht eingelöst.

Vegas bietet eine Mikroanalyse einer Makrostruktur, der Stadt Las Vegas, über die es heißt, dass hier „wie in einem Op Art Gemälde von Victor Vasarely sich die Augen anstrengen müssen, um einzelne Strukturen innerhalb einer sich stets verändernden, schichtenweise aufgebauten Ordnung isolieren und interpretieren zu können“4. Das Chaos, der Zerfall, ist diesen Strukturen eingeschrieben – die Auflösung steht wie ein Versprechen im Raum, wird aber nicht eingelöst: Potenzielle Stromausfälle im realen Vegas sind durch Notstromaggregate abgesichert, auf einen Teil des Videos Vegas folgt der nächste, in dem die Zeichen ihre Ordnung abermals behaupten können.

Annja Krautgasser verbindet in Vegas zwei Fragestellungen, denen sie in ihren Arbeiten, seien es Videos, Installationen oder Netzprojekte, immer wieder nachgeht: die nach den Möglichkeiten der Darstellung einer räumlichen Ordnung, ihren Parametern und schließlich den Orientierungsmöglichkeiten der Benutzer mit der nach dem strukturellen Potenzial dieser Ordnungen, das sie meist mit jenem der bildgenerierenden Apparatur verbindet, wodurch sie zu sehr abstrakten Lösungen gelangt. Hier ist es erstmals das Interesse an einem konkreten architektonischen Eingriff, der, obgleich nicht gebaut, Raum simuliert. Die reale Einbettung dieser „Readymades“ in eine hoch aufgeladene „consumer culture“ bleibt in den narrativen Elementen der digitalen Animationen in Vegas erhalten und verbindet sich mit ihrem strukturellen Potenzial: Die Fusion von Pop und Minimal Art gelingt.

(Claudia Slanar)





1 Könnte von einem Proponenten der klassischen Avantgarde geprägt worden sein, ist es aber nicht, sondern ein Zitat von Gundi Feyrer: Auswendige Tage, Graz 1997, gedruckt auf eine Postkarte.

2 Robert Venturi, Denise Scott-Brown und Steven Izenour: Lernen von Las Vegas. Zur Ikonographie und Architektursymbolik der Geschäftsstadt, Braunschweig/Wiesbaden 1979, S. 19.

3 Ebd., S. 90.

4 Ebd., S. 91.










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© Videostills


fake or feint


Berlin Carré, Karl-Liebknecht-Str. 13, Berlin (D)
04.04. - 02.05.2009
www.fakeorfeint.org

Scenario 4 with: Amy Granat, Annja Krautgasser, Katrin Mayer

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© Ausstellungsansicht: fake or feint, Berlin Carré, 2009

Annja Krautgassers ten-piece series VEGAS (sound: Martin Siewert; commissioned by: Kunstverein Medienturm, Graz) deals with the illusionist architecture of the metropolis of amusement. Las Vegas is the outstanding example for a cityscape where architectonic form stands back behind a sign covered structure of facades and surfaces. Illuminated advertising pointing to the omnipresent entertainment opportunities (casinos, shows, restaurants etc.) not only offers orientation for consumer decisions. It is also part of a spectacle of signs which visually stages the aspect of distraction already at the level of urban space and draws its overwhelming effect exactly from the spectator's overstimulation. Annja Krautgasser takes this luminous advertising out of its context and confers it upon an abstract analytical layout. A matrix of light dots, evoking pixels or light bulbs, serves as tool to investigate animated arrows, pulsating patterns, pictograms, chains of letters and motion sequences in individual studies. By these means the artist explores patterns of the attraction of attention and the transmission of information, as well as the interlocking of technically produced illusion and visual perception...
(Martin Beck)



[VIDEO]: Vegas



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Ausstellungen: • Abstracts of Syn. Edition Medienturm, ARGE Kunst/Galerie Museum Bozen, I 2007 • Abstracts of Syn II, Kunstverein Medienturm, Graz, A 2007 • Abstracts of Syn I, quartier21/MQ, Wien/Vienna, A 2007 • EDITION MEDIENTURM 14, Ovalhalle quartier21/MQ • THE AUSTRIAN ABSTRACTS, Arti et Amicitiae, Amsterdam, NL 2006 • Another Tomorrow. Young Video Art from the Collection of the Neue Galerie Graz am Landesmuseum Joanneum, Slought Foundation, Philadelphia, USA 2008 • fake or feint, Scenario 4, Berlin, D 2009

Edition:
Edition Medienturm 14, Kunstverein Medienturm, Graz