Dachszenen


A 2018 | 19 min | HD 16:9 | Farbe | Stereo | engl. UT

Women look at a city. From far above, from a standpoint of isolation: an urban space, divided into housing plots, roofs, street structures, blocks—detached living. From off screen, fragmentary characterizations of the looking women, which become interlaced with one another, and could be describing only one single person who seems to be searching longingly, observing herself, while observing.

Frauen blicken auf eine Stadt. Von weit oben nehmen sie diese aus einer Perspektive der Isolation buchstäblich unter die Lupe: ein urbaner Raum, eingeteilt in Wohnparzellen, Dächer, Straßenstrukturen, Blöcke, in und auf denen sich vereinzelt Alltagsszenen beobachten lassen. Die Stadt scheint dem Leben seine Form zu geben, in Annja Krautgassers Blick bleibt diese aber fragmenthaft. Ebenso fragmentarisch wie die aus dem Off gesprochenen Charakterisierungen der Blickenden, die sich ineinander verschachteln und zusammen von nur einer einzigen Person erzählen könnten, die aus multiplen Perspektiven und an unterschiedlichen Orten sich selbst sehnsuchtsvoll-suchend beim Beobachten zu beobachten scheint.
(Michelle Koch)

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Credits:
Drehbuch | Regie | Schnitt: Annja Krautgasser
Kamera: Martin Putz, Annja Krautgasser
Tonaufnahmen | Tonbearbeitung | Mischung: Peter Kutin
Tonaufnahmen: Theda Schifferdecker
Schauspielerin: Vivien Löschner
Protagonistin I: Gabriele Brötzner
Protagonistin II: Yasmina Haddad
Protagonistin III: Katharina Sacken
Protagonistin IV: Monika Wurnitsch
Offtext: Annja Krautgasser
Farbkorrektur: Bernhard Schlick
Übersetzung: Alison Kirkland

Gefördert durch :
BKA - innovative film
Stadt Wien MA 7
Land Tirol
ScriptLab - Drehbuchforum



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Dachszenen (Festivalansicht):



Dachszenen (Ausstellungsansicht):




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Screening:
• Diagonale 2018 - Festival des österreichischen Films, A-Graz


ACCENTISMS


30. September 2017 – 28. Januar 2018
TAXISPALAIS Kunsthalle Tirol

mit Lawrence Abu Hamdan, Nicholas Bussmann & Natascha Sadr Haghighian, Edith Dekyndt, Annja Krautgasser, Ali Meer Azimi, Ute Müller, Ulrich Nausner, Angel Nevarez & Valerie Tevere und Natascha Sadr Haghighian

Kuratiert von Nina Tabassomi



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Ausstellungsansicht ACCENTISMS, TAXISPALAIS Kunsthalle Tirol, 2017.
Foto: Günter Kresser



Von adcantus, der Dazugesungene, leitet sich das lateinische accentus ab. Ein poetischer Überschuss, der sich auf Silben, Wörter und Sätze legt, um sie hervorzuheben und zu intensivieren. Akzent bezeichnet auch, wenn diese Lautgestaltung, die Betonungsmuster und Rhythmen einer vorgängig erlernten Sprache in eine neu erlernte integriert werden und sie klanglich einfärben.

Akzente sind Ereignisse, sie werden zeitgleich artikuliert und vernommen, gleichzeitig gesprochen und gehört. Ebenso prozessual verhalten sich individuelle Ausspracheeigenheiten; sie verändern sich mit unseren jeweiligen Lebenskartographien, mit den verschiedenen Orten, an denen wir leben, und mit den unterschiedlichen Menschen, mit denen wir sprechen.

Insofern sind individuelle Akzente in ihrer Komplexität immer schon Einsprüche gegen einfache Vorstellungen von Identität. Dennoch werden Ausspracheeigenheiten in der Lebenswelt häufig mit Herkunft kurzgeschlossen, mit Wertungen versehen und diskriminiert. Anders in der Kunst, die darauf besteht, das Dazugesungene – Einfärbungen, Schattierungen und Tonalitäten – als Generator von Schönheit und Komplexität zu erfahren.



Dachszenen


A 2018 | 19 min | HD 16:9 | Farbe | Stereo | engl. UT

Der Rhythmus und die Kapitalstruktur für Krautgassers Neuproduktion gibt eine vermeintlich unscheinbare Szene aus Jean-Luc Godards Film „Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß“ vor: Eine der Protagonistinnen dreht ihren Kopf dort nach rechts und dann nach links und die männliche Erzählstimme erläutert: "Sie dreht ihren Kopf nach links, aber das hat nichts zu bedeuten.“
In „Dachszenen“ wird diese Dimension der Nicht-Identität, des Nicht-Festschreibens auf ein eindeutiges Warum ausgeweitet zu einem nicht-identischen Wer, Wie, Warum und Wo.
Wer spricht über die Protagonistinnen? Und ordnet dieses Voice-Over die Charakterisierung den Protagonistinnen richtig zu? Spricht die Voyeurin, die uns mit der Kamera zu den heterogenen Dachszenen führt? Sind sie vorgefunden oder inszeniert? In welcher Stadt befinden wir uns? Die Versetzung von Akzenten verschiebt, was wir sehen und hören, in einen Raum essayistischer Unentscheidbarkeit, die der realen Komplexität des Gefilmten näher kommt als dessen konkrete Beschreibung.
(Nina Tabassomi)



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Entwurf Tribüne

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[SYMPOSIUM ACCENTISMS]
Sa, 27. Januar, 10.30 – 17.00
TAXISPALAIS Kunsthalle Tirol
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Dachszenen


von Georgia Holz

Wir können die Stadt niemals erklären oder rechtfertigen. Die Stadt ist da. Sie ist unser Raum und wir haben keinen anderen. Wir sind in den Städten geboren. Wir sind in Städten groß geworden. In Städten atmen wir. ... Es gibt nichts Unmenschliches an einer Stadt, höchstens unser eigenes Menschsein.1 (Georges Perec)

„Sie wünschte sie wäre Schauspielerin wie sie, könnte ihre eigene Rolle schreiben, ihre eigene Geschichte“, spricht die Erzählerin, während wir eine Frau bei Yogaübungen sehen; eine von zahlreichen Dachszenen, mit denen uns Annja Krautgasser konfrontiert. Wir kommen nicht umhin zu fragen, wer hier über wen spricht, wer mit sie gemeint ist: die Künstlerin, die Erzählerin, die Darstellerin? So wie diese Fragen unbeantwortet bleiben, entzieht sich der Film – ganz in der Tradition des Essayfilms – eindeutigen Genres: dokumentarische Form, Fiktion und Inszenierung verschwimmen. Die gesamte Atmosphäre, sowohl auf der bildlichen als auch auf der inhaltlichen Ebene, ist zu einem Gemenge aus Ambiguität und zeitweise Unbehagen verdichtet, eine Stimmung, die durch den Soundtrack noch verstärkt wird. Die Erzählerin bringt es auf den Punkt: „Heute verspürt sie Angst, wo sie herkommt, weiß sie nicht...

Im Wechsel der Jahres- und Tageszeiten breitet sich das Panorama einer Stadt vor uns aus, wird zur Folie für unsere Phantasien und Assoziationen. Wir werden im Unklaren gelassen, um welche Stadt es sich handelt, sie gibt sich nicht durch geläufige Orientierungspunkte oder Wahrzeichen zu erkennen. Stattdessen fungiert die Stadt scheinbar als Kulisse für typische Szenen, die im urbanen Raum Privatheit vermitteln. Es sind von einem erhöhten Standpunkt aus über Dächer, Balkone und Straßen schweifende, beobachtende Aufnahmen, meist im Weitwinkel und sich gelegentlich auf kurze Beobachtungen fixierend, doch mit ausreichend Distanz. Für diese kurzen Szenen des alltäglichen Lebens, an der Schwelle zur voyeuristischen Beobachtung, haftet sich die Kamera an Details ohne diese Schwelle endgültig zu überschreiten: Wir sehen Bauarbeiter, Dachdecker, „Sonnenanbeter“ oder Jugendliche, die gefährlich nahe am Dachrand balancieren und Steine runter werfen. Es sind Sequenzen aus einem ganzen Kosmos sozialer Wirklichkeiten, „in de[nen] unterschiedliche Dinge zueinander finden und nicht länger getrennt existieren"2. Hier eröffnen sich vielfältige Formen der Aneignung des urbanen Raums, Handlungspraktiken von Körpern, die neue Räume schaffen und erobern.

Eingespannt in das städtische Raumgewebe sind die kurzen Portraits vierer Frauen, von denen wir nur die Namen und fragmentarische Details aus ihrem Leben erfahren. Ungewohnt nahe führt uns die Kamera an ihre eindringlichen Gesichter heran, deren Blicke unsere zurückzuwerfen scheinen. Der distanzierten Beobachtungen der Stadt gegenübergestellt schafft diese unvermittelte Nähe Vertrautheit, animieren regelrecht dazu, die Fäden, die uns Annja Krautgasser in die Hand gibt, aufzugreifen und die Geschichten aus diesen Leben weiterzuspinnen. Als Inspiration für die Frauenfiguren diente Jean Luc Godards „ Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß “, eine soziale Studie über Paris, aus der Perspektive einer jungen, verheirateten Frau und Mutter, die sich durch Prostitution ihr Zubrot verdient. Die für die Künstlerin zentrale Szene zeigt wie die Hauptdarstellerin ihren Kopf zuerst nach rechts und dann nach links dreht, während der Erzähler erläutert: "Sie dreht ihren Kopf nach links, aber das hat nichts zu bedeuten“.

Auch wenn die Kommentarebene in der dritten Person gehalten ist anstatt in der Ich-Form, vermittelt der filmische Blick eine subjektive Perspektive, die eine geradezu intime Sicht auf die Stadt und den vertrauten Erfahrungsraum der Künstlerin reflektiert, ja sogar als autobiografisch gelesen werden kann; vielleicht sind die vier Frauen ja ihre Alteregos. Durch diese betont subjektive Herangehensweise verdichtet sich der Film zu einer Reflexion über Identität und Nicht-Identität, Innen- und Außensicht. Aber vor allem ist „Dachszenen“ ein Kommentar über das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit. Auf ebenso simpel wie eindringliche Weise führt Annja Krautgasser vor, wie die filmische Form vermag, Illusion zur Realität und Realität zur Illusion werden zu lassen.





1 Georges Perec, Träumen von Räumen, 1974, S. 106.
2 Henri Lefebvre, Die Revolution der Städte, Frankfurt am Main 1990, S. 127.






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